Neuer Schwung in alten Gassen – Frische Architekturimpulse für Soest!?

Die Überschrift suggeriert eine unversöhnliche Polarisierung zwischen den Fortschrittlern auf der einen Seite, die die Zeichen der Zeit erkannt haben und dem Alten und Verstaubten neuen Schwung verleihen, und auf der anderen Seite den Traditionalisten, die am Althergebrachten kleben und am liebsten alles so belassen wollen, wie es ist. Dies ist offenbar bei vielen der Eindruck, den man vom Soester Geschichtsverein hat. Dieser Eindruck kann natürlich entstehen, weil wir ja nur dann etwas lauter das Wort ergreifen, wenn es aus unserer Sicht pressiert. Ich möchte aber gleich zu Anfang betonen, dass ich, so lange ich die Tätigkeit des Geschichtsvereins überblicke, nicht den Eindruck eines Vereins der Ewiggestrigen habe. Aber sei’s drum, ich will mal im Sinne einer lebhaften Diskussion den Standpunkt vertreten.

In der Einladung zu dieser Veranstaltung stand geschrieben, dass das baukulturelle Erbe der Stadt Soest und der behutsame Umgang damit ein wichtiger Standortvorteil als Wohn- und Wirtschaftsstandort sowie Tourismusdestination sei. Man ist spontan geneigt, dem zuzustimmen, aber die Tücke liegt bereits in der Formulierung „behutsamer Umgang“. Denn behutsam ist das, was in städtebaulicher Hinsicht in der historischen Altstadt seit Jahren passiert, eben nicht.

Einige Stichworte mögen dies in Erinnerung rufen: Da haben wir das überdimensionierte Modezentrum in der Waisenhausstraße, (5.000qm auf 35.000qm Gesamtfläche), da sind im Zuge des Wallentwicklungskonzeptes die Neugestaltung des Walles und der Gräfte mit Aufgängen, Absturzgittern, Walldurchbrüchen, Stadttor-Plätzen, sodann die Entfernung vom für die Altstadt charakteristischen Kopfsteinpflaster und das Einbringen von für Westfalen recht ungewöhnlichem, sandfarbenen Asphalt – jetzt ganz frisch in der Marktstraße (sieht aus wie „Soest-Beach“) usw. Hinzu kommen ganz neue Herausforderungen und Veränderungen des historischen Ambientes durch beispielsweise Photovoltaikanlagen auf Dächern und an Balkonen.

Selbst am Giebel links oben kleben noch PV-Module.

Und der neueste Schrei: Das neue Gebäudeenergiegesetz (umgangs-sprachlich Heizungsgesetz), das womöglich zu einer massiv nötig werdenden Dämmung von Häusern führen wird. Dies wird das Aussehen der Häuser stark vereinheitlichen und auch so manche schöne Aussicht in Soester Gassen verhunzen. Beispiel einer der malerischsten Gassen:

Die Styropor-Dämmung ragt 20cm tief in die Gasse hinein, bei einer Breite der Gasse von 2m. Auch wenn eine Kommune, juristisch gesehen, so eine Überbauung genehmigen kann (nicht muss), sieht es diesem Fall furchtbar aus. Bei ungefähr 3.000 nicht denkmalgeschützten Gebäuden in der Altstadt steht zu befürchten, dass flächendeckend Wärmedämmungen in dieser Art entstehen. Das wird also genehmigt. Aber machen Sie mal das Gedanken-experiment, wenn Sie Ihren Vorgarten um 20cm auf den Bürgersteig ver-größern würden, was dann los wäre…

Und bei der Kritik , wie ich seit Jahren nicht müde werde zu betonen, geht es nicht mal um den einzelnen Bau, die einzelne Straße, die einzelne Photovoltaik-Anlage. Es ist die Summe all dieser Ansprüche an die Altstadt, die im einzelnen durchaus berechtigt sein mögen, die aber in der Gesamtheit das Erscheinungsbild der Stadt wesentlich verändern, und das sehr zum Nachteil, wie ich meine.

Das ist nun aber keineswegs die Meinung eines Ewiggestrigen. Liest man beispielsweise die Gutachten des Deutschen Städtetages der letzten Jahre, wird Folgendes immer klarer: Jahrzehntelang hat der Städtetag quasi nur ein Thema für eine positive Innenstadtentwicklung gehabt: nämlich Parkplätze, Parkplätze, Parkplätze. Heutzutage liest sich das ganz anders. Die Städte, die einigermaßen gesund durch die Corona-Zeit gekommen sind und denen einen gute Zukunft vorausgesagt wird, das sind diejenigen, die sowas haben wie Ambiente, Lebensqualität, Aufenthaltsqualität. Ich zitiere aus dem aktuellen Geschäftsbericht 2023:

„Nicht erst seit der Corona-Pandemie zeichnet sich ein Wandel in den Innenstädten ab. Innenstädte sind nicht länger nur ein Ort des Konsums, sondern Orte für Begegnungen und Erleben. Nutzungsmischungen auch für kürzere Zeiträume sind gefordert. Dazu gehört das Wohnen ebenso wie der Handel, die Gastronomie, die Kultur und die Bildung. Der öffentliche Raum muss neu ausgerichtet werden.“

Ich nehme mal die Begriffe Kultur und Bildung auf: Sollte es sich rein hypothetisch mal in Soest abzeichnen, dass man einem Heinrich Aldegrever ein eigenes Museum widmen wollte, oder gar ein für Soest wunderbar passendes überkonfessionelles „Museum der sakralen Kunst“, oder dass ein neues Rathaus notwendig würde, dann käme selbstverständlich ein dezidiert aktueller, qualitativ hochwertiger Bau – wie vielleicht von einem Architekten Grüttner – sehr wohl in Frage, und könnte es fast nicht anders sein. Es muss aber keineswegs so uninspiriert gebaut werden wie aktuell in der Tho-mästraße (pace dem Architekten und Bauherren, die ich nicht kenne).

Es geht dabei nicht so sehr um die Frage, ob nicht der eine oder andere Neubau mit anspruchsvoller Architektur in der Altstadt möglich sein soll (s. den Multifunktions-Museumsbau von Rainer Schell für Wilhelm Morgner aus dem Jahr 1962 oder der Sternberg-Villa von Bruno Paul von 1927), sondern dass man dabei ist, an vielen Stellen und mit vielerlei Methoden gravierend das Erscheinungsbild der Stadt zu verändern. s.o.

Der mögliche Einwand, Städte hätten sich doch immer gewandelt, und jede Zeit hätte in ihrem Stil gebaut, und zwar keineswegs im ortsüblichen Stil (Beispiel Gotik – kam aus Frankreich, Renaissance aus Italien), dem möchte ich entgegen halten: der Unterschied zu früheren Jahrhunderten ist, dass wir seit dem 19. Jh. ein historisches Bewusstsein entwickelt haben. Es zeichnet unsere Kultur aus, dass die Geschichte, das Verständnis unseres Gewordenseins insbesondere für den modernen Menschen von enormer Wichtigkeit ist, insbesondere für Demokratien, und hier insbesondere für die Deutschen. Die heutige BRD, unsere Verfassung, unsere Gesellschaft, unsere Institutionen könnte man nicht verstehen, ohne die besondere Rolle der Deutschen im vorigen Jahrhundert zu kennen, dem Jahrhundert zweier Weltkriege. Dies impliziert auch das Wissen um, ein Verständnis von und Möglichkeiten des Gedenkens der Millionen Opfer insbesondere des 2. WK und des Holocausts. Es ist gut, dass wir ein historisches Bewusstsein haben, und es ist gut, dass uns die kulturellen Leistungen unserer Vorfahren, sei es die Kunst, sei es die Architektur, etwas bedeuten.

Wer dieses Bewusstsein nicht so ausgeprägt hat, der nutzt beispielsweise die hellenistischen Stadtfundamente und Tempelanlagen in Kleinasien zum Autobahnbau (wie es noch zu meiner Studentenzeit der Fall war in der Türkei).

Da sollten wir aber nicht überheblich sein: Es schadet nicht zu wissen dass im Modernitätswahn deutscher Städte nach dem 2. WK, in Westdeutschland mehr historische Bausubstanz wegsaniert als im Luftkrieg zerstört wurde. Das könnte ein hilfreicher Hinweis sein, bevor man heutzutage historischer Bausubstanz an den Kragen geht. Sie ist dann endgültig verschwunden, bestenfalls erscheint sie als rekonstruierte Fassade (Humbold-Forum Berlin, oder als eine Art Disney-Architektur (Frankfurter Römer oder Hemmer-Haus am Marktplatz).

Und sind nicht die meisten von uns froh, dass nach dem Internationalismus der 50er bis 70er Jahre („Schuhkarton-Architektur“) im Zuge der Postmoderne ein gewisser spielerischer Regionalismus wieder Einzug hielt und die verputzten grauen und braunen Einheitsfassaden nach und nach aus den Städten verschwanden und die ursprünglichen Fassaden wieder hervorkamen, dass die Städte im Aussehen wieder vielfältiger, unterscheidbarer, bunter und fröhlicher wurden? Und jetzt die Rolle rückwärts? Jetzt sollen Fachwerk und Jugendstilornamente wieder unter gedämmten Einheitsfassaden verschwinden? Zumindest würden wir erwarten, dass die Stadt die Bürger über Alternativen zum drohenden Styropor-Dämmungswahn aufklärt.

Fazit: Ich sehe den Geschichtsverein keineswegs als den Verhinderer von Fortschritt und Erneuerung. Aber darauf hinzuweisen, dass wir in Soest mit der historischen Altstadt das größte Pfand für eine gute Zukunft haben, dürfte ja wohl angebracht sein. Und dass Fortschritt nicht gleichbedeutend sein sollte mit unkritischem und unwissenschaftlichem Hinterherlaufen von Zeitgeist-Phänomenen auch. (Ein winziges Beispiel: Dachbegrünungen, so nett sie auch ausschauen mögen, haben laut Prof. Gruehn, den wir im vorigen Jahr als Referenten bei uns in Soest hatten, für das Klima genau NULL Auswirkungen; sein Merksatz lautete: Klimaschutz sollte man da betreiben, wo er auch wirkt).

Der Geschichtsverein hat zwar recht wenig Einfluss bei stadtplanerischen Entscheidungen, liegt doch seine Hauptaufgabe in der Erforschung der Vergangenheit und nicht in der Projektierung der Zukunft. Doch gerade hier in Soest kann man feststellen, dass die hohe Identifikation der Bürger mit ihrer Stadt und das ungewöhnlich hohe bürgerschaftliche Engagement, das wir hier haben, ohne die ständige Auseinandersetzung mit dem kulturellen Erbe nicht möglich wären. Die Stadt prägt ihre Bürger, und die Bürger prägen ihre Stadt. Es ist auch erfreulich zu sehen, wie viele heute zu dieser Veranstaltung gekommen sind.

Aber so ganz nebenbei gesagt, könnte es nicht schaden, wenn die Argumente des Vereins manchmal mehr Gehör fänden. Als Beispiel könnte man anführen: Hätte man etwa im Jahr 1958 auf den Geschichtsverein gehört, der damals vehement gegen die Deckelung und Einbetonierung des Soestbaches protestiert hat, so müsste man heute nicht über die teure Freilegung und die Renaturierung des Baches diskutieren.

Günter Kükenshöner

Impulsvortrag, gehalten am 19.10.2023, 18 Uhr, eine Veranstaltung der Stadt Soest im Blauen Saal

Vortrag: Kinofilme der 1930er- und 1940er-Jahre in Soest

0:00:00 Einführung
0:17:26 Filmbeispiele
1:29:19 Credits

Referent: Günter Kükenshöner, M.A.
Technische Umsetzung: Adrian und Nicolai Weitkemper